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Ein Brief an deine Sorgen: es ist okay, trotz Erreichen eines Ziels sich nicht anders/besser zu fühlen

Liebe Brieffreundin/ lieber Brieffreund,

ich hoffe es geht dir gut. Ich hoffe du bist gesund. Vielleicht fühlst du dich gerade niedergeschlagen und traurig. Vielleicht auch verzweifelt. Das ist völlig in Ordnung. Diese Gefühle dürfen da sein. Sie sind für dich da, auch wenn sie sich im Moment nicht danach anfühlen. Fühl dich von mir an dieser Stelle gedrückt. Vielleicht empfindest du aber auch gerade keine starken schwierigen Emotionen. Egal wie es dir in diesem Moment geht, ich hoffe, meine Zeilen können dir eine kleine virtuelle Umarmung schenken oder dich für Probleme anderer sensibilisieren, damit du ihnen anstelle meiner eine physische Umarmung geben kannst.

Ich fühle deine Gedanken, deine Emotionen. Oft gehen wir mit dem festen Glauben durch das Leben, dass wenn wir unser großes Ziel erreichen, endlich ankommen, uns glücklich und zufrieden fühlen und es „geschafft“ haben. Vor Jahren habe ich das geglaubt und ich glaube es auch immer wieder noch. Die eineinhalb Jahren Vorbereitung auf mein erstes juristisches Staatsexamen und das anschließende monatelange Warten auf das Ergebnis, war die schwierigste Zeit meines jungen Lebens. Es brachte mich an Grenzen, die ich noch nie erreicht hatte – physisch und psychisch. Es konfrontierte mich mit Erschöpfung, starken Selbstzweifeln und gewaltigen Zukunftsängsten. „Doch wenn ich es geschafft habe, dann…“. Als ich es dann geschafft hatte, trat das erhoffte „dann“ jedoch niemals ein. Stattdessen kam nach dem kurzen Hoch ein sehr tiefes Tief. Ich verstand die Welt nicht mehr. All die Glückwünsche samt Benennung meines „Titels“ berührten mich nicht so wie ich es mir vorgestellt hatte. In meinem Inneren machte sich vielmehr ein Gefühl von „Hm, okay, nächstes Ziel liegt schon vor mir“ breit. Auch das Halten meiner Urkunde veränderte in meinem Inneren nichts. Es dauerte eine ganze Weile bis ich merkte, dass immer meine Erwartung mit der Vorstellung verknüpft war, dass ich mit Erreichen meines Ziels – meinem Studienabschlusses – glücklicher werden würde. „Wenn ich bestanden habe, dann bin ich glücklich.“ Doch ich wurde nicht glücklicher. Ich wurde zu keinem anderen Menschen. Die kurze Euphorie verflog sehr schnell und es breitete sich in mir eine unfassbare Enttäuschung aus. Die Enttäuschung darüber, nicht glücklicher als ohne Abschluss zu sein. Natürlich war ich erleichtert, dankbar und froh es geschafft zu haben. Aber das große „Jetzt, jetzt bin ich angekommen!“ blieb aus. Schnell wurde der Erfolg durch die nächsten Herausforderungen relativiert. Doch was es noch schwieriger machte: ich fühlte mich nicht verstanden. Es war nahezu unmöglich für mich diese Gedanken mit anderen zu teilen. Ich kannte niemanden, der mit mir zeitgleich den Abschluss gemacht hatte, den ich nach seinen Empfindungen fragen konnte. In meinem Umfeld hatte niemand etwas vergleichbares gemacht, sodass ich (verständlicherweise) nur auf verdutzte Blicke traf, wenn ich mein Problem schilderte. „Welches Problem denn?“. Ich begann an mir selbst zu zweifeln. Stimmte etwas nicht mit mir? Hatte ich das Falsche studiert? War das in Wirklichkeit der falsche Weg?

Wenn du also selbst an diesem Punkt bist, dann fühl dich von mir gedrückt. Ich verstehe dich, ich kann deine Gedanken und Emotionen nachempfinden, denn ich habe sie erlebt. Du bist nicht falsch. Es ist völlig okay so zu empfinden! Das geht allen so. Den einigen mehr, den einigen weniger. Denn jeder hat andere Vorstellungen davon, wie ausgeprägt das Hochgefühl nach der Zielerreichung sein soll und wie die Zeit danach sich wohl anfühlen wird. Die Examensvorbereitung war eine furchtbare Zeit, die unbewusst an die Erwartung geknüpft war, dass ab dem Tag X alles anders wird. Aber so war es nicht, da wir uns durch Erfahrungen verändern, nicht durch einen einzigen Tag, einen Abschluss oder einen Titel. Das dürfen wir mit dieser Erfahrung – der Enttäuschung über den fehlenden „wenn, dann“-Moment“ – lernen. Wir werden nie durch ein bestimmtes Ziel wirklich ankommen. Denn wir sind schon angekommen. Hier und Jetzt. In diesem Moment. Auch, wenn es oft in der bestimmten Situation nicht vorstellbar ist, aber nach jeder Herausforderung wartet die nächste, die uns die letzte – trotz größter emotionaler Belastung – oft vergessen lässt. Es ist in Ordnung, dass sich diese Erkenntnis für dich erstmal unangenehm anfühlt und dass du einen Widerstand verspürst. Schließlich werden wir in dem Glauben groß, dass „wenn das passiert“ wir „dann endlich glücklich sind“. Fakt ist aber, dass du durch den Tag X kein anderer Mensch bist. Du bist nach wie vor die wundervolle Person, die du schon vorher warst. Schon vorher vollkommen und gut so wie du bist. Zertifikat hin oder her. Es ist okay, dass dich das gerade frustriert und dass es dich enttäuscht. Du brauchst dich für diese Gefühle und Gedanken auch nicht selbst verurteilen. Jedes Tief bringt eine Erfahrung mit sich, die dich wachsen lässt. Durch meine Erkenntnis, dass ich mich trotz Erreichen bestimmter Ziele nicht von heute auf morgen völlig verändere und anders fühle, dass ich mich dadurch nicht plötzlich angekommen fühle und so glücklich werde, habe ich erkannt, dass ich mein Leben anders ausrichten darf. „Der Weg ist das Ziel“, ist nicht umsonst ein bekanntes Sprichwort. Jeder Moment zählt. Ich knüpfe mein Glück nicht mehr an Ziele. Ich gehe noch immer meine Wege, fokussiere mich auf ein Ziel, welches ich erreichen möchte, aber vergesse nicht, dass der Tag X aus mir keinen anderen Menschen macht. Der Weg zu Tag X aber schon. Die Auf und Abs. Die Hürden, die ich überwinde. Die Tiefs, die ich fühle. Sie alle lassen mich wachsen. Die Freude am Schreiben meiner Blogbeiträge, die Podcastfolgen während meiner Kaffeepause und das Häkeln nach einem langen Lernalltag, schaffen Freude und Glücksmomente, die mich wirklich glücklich machen. Es ist wie beim Shoppen. Der Kick etwas neues zu Kaufen lässt das Herz schnell gewaltig hoch schlagen, doch in kurzer Zeit pendelt sich wieder das Ausgangsgefühl ein. Es ist also völlig normal und okay, wenn du enttäuscht davon bist, dass das Hoch nach deinem Abschluss, dem Erreichen eines großen Ziels oder Zertifikates nicht lange anhält. Das ist völlig natürlich und das kennen wir alle. Einige mehr, andere weniger. Und ich kannte es mehr. Also lass dir von mir gesagt haben, dass du völlig richtig bist, wie du bist. Dass deine Gefühle berechtigt sind und du sie voll und ganz spüren darfst, auch wenn sie unangenehm sind. Du bist nicht allein mit deinen Gedanken und darfst dich wirklich darauf freuen, dass dich auch diese Erfahrung nun wachsen lässt.

Liebe Grüße

deine Jenni

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